Hatten die Augen ihn gerade verfolgt? Gänsehaut lief ihm den Rücken hinunter und er musste sich zwingen vernünftig hinzuschauen. Das Bild hing vollkommen normal an der Wand. Ein Mädchen war darauf abgebildet. Nichts Besonderes. Irgendeine Trivialmalerei aus dem späten 19. Jahrhundert vermutlich. Oder zumindest im Stil dieser Zeit. Das Mädchen trug ein Südamerikanisch anmutendes Trachtengewand. Dahinter war eine Berglandschaft angedeutet. Und jetzt wo er das Bild so genau betrachtete, schien es auf einmal überhaupt nicht mehr bedrohlich. Das Mädchen schaute irgendwie traurig. Er bewegte sich vor dem Bild nach rechts und links, doch die Augen starrten nur stur geradeaus.
Zweimal holte er tief Luft. Er hätte schwören könne, als er gerade am Bild vorbei ins Bad gegangen war, wären die Augen ihm gefolgt. Vorsichtig streckte er die Hand vor und fuhr über die Oberfläche und musste grinsen. Vor dem Bild lag ein mattes Glas. Es war also gar kein richtiges Bild sondern nur ein Kunstdruck. Und er hatte sich sicherlich nur von einer Reflektion im Glas täuschen lassen.
Ächtzend legte er sich auf das Bett und streckte die müden Glieder noch einmal aus. Es war noch viel zu früh um aufzustehen. Draußen war es noch dunkel. Nur die Straßenlaternen verbreiteten ihr trübes Licht. Durch die dicken Vorhänge drang jedoch so gut wie nichts davon ins Zimmer. Die einzige Lichtquelle, war die kleine Funzel auf dem Nachttisch. Er tastete nach dem Schalter und es klickte. Das Licht ging aus und unwillkürlich ging sein Blick noch einmal zu der Stelle an der Wand, wo der Rahmen hing. Das waren doch deutlich zwei rote kleine Kreise wie Glutpunkte in der Dunkelheit. Als der Schreck ihn wieder losließ, patschte er heftig auf der Wand herum in der Hoffnung den Schalter endlich zu treffen und dann war die Lampe wieder an und das Zimmer erneut in das fahle Licht getaucht.
Unschuldig hing das Bild an der Wand und das Licht der Nachttischlampe brach sich in einem weißen Streifen einmal quer über dem Gesicht des Mädchens. Er konnte sein Herz klopfen hören und spürte, wie er zitterte. Von glühenden Augen war nichts mehr zu sehen. Immer wieder atmete er tief durch. Wieder und wieder liefen Wellen von Gänsehaut über seinen Körper. Er starrte weiter auf den Rahmen an der Wand. Doch das traurige Gesicht blieb unter der weißen Reflektion verborgen.
Nur langsam beruhigte sich sein Herzschlag und er löschte das Licht wieder. Die Augen fest zusammengepresst, versuchte er ruhig zu atmen. Das Bild konnte ihm nichts tun. Es war nur ein bedrucktes Stück Papier in einem mäßig schönen Rahmen hinter einer Glasscheibe. Doch wie oft er sich auch vorsagte, dass es sicher nur eine Täuschung war, er musste hinsehen. Langsam drehte er den Kopf in die Richtung und entspannte die Augen erst mal, ohne sie zu öffnen. Vorsichtig tastete seine Hand nach dem Lichtschalter. Als er ihn gefunden hatte, legte er die Finger darauf, bereit jederzeit die Nachttischlampe einzuschalten.
Wie in Zeitlupe öffnete er die Augen und das Bild lag vollkommen im Dunklen. Nur ein schwarzer Schatten ließ erahnen, wo der Rahmen an der Wand hing. Nichts zu sehen, von sich bewegenden Augen oder gar glutroten Kreisen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und er ließ die Hand, welche bis gerade noch am Lichtschalter gehangen hatte, auf das Bett sinken. Und im selben Augenblick gefror das Blut in seinen Adern. Deutlich konnte er sehen, wie das Mädchen jetzt die Lider geöffnet hatte und die roten Augen ihn in der Dunkelheit glühend anstarrten. Sie hatte nur darauf gewartet, dass er den Lichtschalter losließ.
Wütend hämmerte er gegen die Wand um den Schalter zu treffen. Beim dritten Mal gelang es und das Licht der Nachttischlampe tauchte den Raum erneut in fahles gelbliches Licht. Sein Blick war nach wie vor auf das Bild geheftet und ihm war, als würde das Mädchen ihn nun mitleidig anlächeln. Doch das Schlimmste waren die Augen. Diesmal hatte das Glühen nicht sofort aufgehört, als das Licht angegangen war. Deutlich konnte er im weißen Streifen der Lichtreflektion das verblassende Feuer in den Pupillen erkennen.
Jetzt war genug! Er rollte sich auf die Fensterseite des Bettes und stand dort auf. Das war weiter von dem Bild entfernt. Er schob sich an der Wand entlang zum Kleiderschrank und schaltete das große Deckenlicht ein. Hektisch streifte er sich eine Jeans über und warf alle seine Sachen in den Koffer ohne auf Ordnung zu achten. Immer wieder schielte er zu dem Bild. Die Augen schienen ihm nun vollkommen unverhohlen zu folgen. Er schaute auf die Uhr, es war gerade kurz vor vier Uhr. Viel zu früh, um aufzustehen. Zumal er einen harten Tag vor sich hatte. Er schleifte den Koffer hinter sich her und griff im Vorbeigehen noch seinen Kulturbeutel aus dem Badezimmer. Er musste hier raus.
Die Dame an der Rezeption schüttelte irritiert den Kopf. „Was stimmt denn mit ihrem Zimmer nicht. Wir können es sicher beheben.“, meinte sie mit geschulter Freundlichkeit. „Ich will einfach ein anderes Zimmer!“, fauchte er nur wieder wütend. Die Nachtconcierge zuckte die Schultern. „Das müsste ich ihnen dann auch neu berechnen.“, gab sie trocken zurück und tippte auf dem Computer um festzustellen, welches Zimmer noch frei war. „Mir egal!“, kam die patzige Antwort.
Die Dame zog eine Chipkarte durch das Gerät und programmierte sie auf diese Weise. „Zimmer 205 ist nun ihres. Ich wünsche ihnen noch eine angenehme Nacht.“ Doch er grabschte nur nach der Karte und verschwand wieder im Aufzug.
Beruhigt sah er sich in seinem neuen Zimmer um. Es glich dem Alten, wie ein Ei dem anderen. Mit zittrigen Schritten ging er um die Ecke und schaute auf die Wand, welches Bild wohl in diesem Zimmer hing. Zufrieden stellte er fest, dass es ein simples Landschaftsbild war. Die Gänsehaut ließ langsam nach und er rollte sich auf dem Bett zusammen und sank fast augenblicklich in tiefen Schlaf.
Er hatte vergessen die Vorhänge zu schließen. So weckte ihn die aufgehende Sonne um kurz vor acht. Er atmete tief durch und sofort schossen ihm die Ereignisse der Nacht wieder durch den Kopf. Sein Herz schien für einen Sekundenbruchteil still zu stehen. Doch an der Wand hing immer noch das Landschaftsbild, das ihn nicht beunruhigen konnte. Fast erleichtert schwang er die Füße aus dem Bett und wusch sich im Bad das Gesicht.
Wenn er nun schon wach war, konnte er eigentlich auch frühstücken gehen. Er hatte immer noch die Jeans an und streifte sie nun einmal glatt. Seine Laune besserte sich zunehmend. Jetzt ein Frühstück. Danach noch zwei oder drei Stunden schlafen und dann zum Meeting. Das waren doch angenehme Tagesaussichten. Er zog die Schlüsselkarte aus dem kleinen Schacht neben der Türe und machte sich auf den Weg nach unten. Das Frühstücksbuffet war nicht zu verachten und er holte sich gleich dreimal von den Eiern mit Speck nach. Kaffee ließ er aus. Schließlich wollte er gleich noch ein wenig schlafen.
Eine gute halbe Stunde später klickte er die Türe von Zimmer 205 mit der Chipkarte auf und ging hinein. Diesmal zog er auch die Vorhänge zu. Er warf einen Blick auf seine Uhr und programmierte am Handy den Wecker. Er hatte noch etwas mehr als zwei Stunden Zeit zu schlafen. Danach wäre immer noch Gelegenheit sich frisch zu machen und mit dem Taxi zum Meeting zu fahren. Dafür musste er zwar die übliche Vorbereitung auslassen, doch nach den Erlebnissen dieser Nacht waren zwei Stunden Schlaf wichtiger, als irgendwelche nutzlosen Details aus den Mappen, die außer ihm sowieso wieder niemand gelesen haben würde. Er streifte noch schnell die Jeans ab und ließ sich auf das frisch gemachte Bett fallen. Als sein Blick auf die Wand fiel traf ihn der Schlag.
„Er war ein Mistkerl. Letztes Jahr hat er seine Sekretärin geschwängert und sie gezwungen das Kind abzutreiben. Sie war eine Mexikanerin und sehr gläubig. Sie ist daran zerbrochen. Seitdem hat er auch in der Firma keinen guten Stand mehr gehabt. Ich denke nicht, dass viele Leute zur Trauerfeier kommen werden.“ Der Bestatter nickte. „Dann reicht die Friedhofskapelle.“, erklärte er trocken. Die Witwe schien ihrem Mann nicht wirklich hinterher zu trauern. Das kam öfter vor als man so dachte. Und hier war es auch ein wenig dramatischer Fall. Herzinfarkt im Hotelbett. Sicher nach einer übertriebenen Liebesnacht mit einer Dame vom Gewerbe. Aber über so etwas sprach nicht. Man erwies dem Toten die letzte Ehre und gut.
Das Zimmermädchen schob den Wagen über den Flur. Ein großer Stapel Rahmen lag oben auf den Handtüchern. Letzte Woche waren sie im zweiten Stock ausgetauscht worden. Diese Woche war der dritte Stock an der Reihe. Sie mochte das Bild. Die Tochter des Hoteldirektors hatte es gemalt. Seit sie in der Anstalt eingewiesen war, hatte er jede Menge Kunstdrucke davon anfertigen lassen und ließ sie nun auf allen Zimmern aufhängen.